Von Pseudofreiheiten und Tabubrüchen
25. April 2012 von Jaspis
Jüngst bestätigte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass die deutsche Strafnorm des § 173 StGB, die den Geschlechtsverkehr zwischen Geschwistern, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, unter Strafe stellt, nicht zu beanstanden ist.
Zu dieser Thematik gibt es viele Aspekte: Den kulturhistorischen Hintergrund des Inzestverbots, mögliche natürliche Barrieren, die Gefahr von Erbschäden und die psychologischen Auswirkungen. Zudem gibt es verfassungsrechtliche Aspekte, die die Vereinbarkeit der Strafnorm mit der Verfassung - mit den Menschenrechten beleuchtet. Dass das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit der Norm bejaht hatte, [1] war nach Ansicht des EGMR nicht zu beanstanden. Zum einen ist diese Frage europaweit nicht einheitlich geregelt, zum anderen hat das Bundesverfassungsgericht nach Ansicht des EGMR alle Argumente sorgfältig gegeneinander abgewogen und ist so zu seinem Beschluss gelangt.
Dem kann man nun zustimmen - oder auch nicht. Nicht zugestimmt hat seinerzeit der damalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer. Winfried Hassemer, der, bei allem Respekt, aber auch nicht immer davor gefeit ist, sich zu vergaloppieren, [2] äußerte seine Bedenken ausführlich im Nachgang zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26.02.2008. Er konnte die Senatsmehrheit aber nicht von seinen Bedenken überzeugen. Inwieweit jede Säule, auf der § 173 StGB steht, isoliert betrachtet werden kann oder muss, ist eine juristische Frage, die Wertung den Richtern vorbehalten.
Nicht aber in den Augen von Helmut Kerscher. Helmut Kerscher ist der Meinung, das Urteil des EGMR sei “widersinnig”.[3]
Doch widersinnig ist das, was Kerscher mit diesem Kommentar zum Besten gebracht hat. Nicht deshalb, weil er eine andere Meinung hat. Sondern deshalb, weil er will, dass seine Leser seine Meinung teilen, koste es was es wolle. Den Sachverhalt zum Beispiel. Oder die Tatsachen. Oder verquere Gleichsetzungen.
Kerscher beginnt mit seiner Kritik am Handwerk des EGMR:
Im Kern begnügt sich das Gericht mit einer Zustandsbeschreibung - einerseits der unterschiedlichen Rechtslage in den 47 Ländern des Europarats, andererseits der eigenen Rolle.
Das ist ungefähr so kritikwürdig wie wenn Kerscher einem Fassadenmaler vorwirft, er begnüge sich damit, Farbe an eine Wand aufzubringen. Denn genau das ist die Aufgabe. Der EGMR hatte nicht zu prüfen, ob die Strafnorm einem Herrn Kerscher passt oder nicht, sondern er hatte zu prüfen, ob die Norm den von der Europäischen Gemeinschaft aufgestellten Menschenrechtskatalog widerspricht. Dabei kommt es selbstverständlich maßgeblich darauf an, welche Regelungen in den Mitgliedsländern gelten.[4]
Der EGMR erklärte, dass der Umgang mit Inzest in Europa nicht einheitlich geregelt sei, auch wenn die Geschwisterliebe in zahlreichen Staaten verboten ist. In dieser Frage gebe es in den 47 Mitgliedsländern des Europarats keinen Konsens, so die Richter. Somit stehe den deutschen Behörden ein “weiter Beurteilungsspielraum” zu.
Als nächsten Punkt hatte der EGMR zu prüfen, ob das deutsche Bundesverfassungsgericht korrekt gearbeitet, den vorgebrachten Einzelfall also sorgfältig geprüft hat. Und das hat es nach Einschätzung des EGMR.
Kerscher hingegen:
So akzeptierte Straßburg nun eine auf schwachen Füßen stehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom März 2008 für die Strafbarkeit des Geschwister-Inzests.
Doch die Entscheidung steht nicht “auf schwachen Füßen”. Sie steht. Sie wurde von der Mehrheit des Senats so getroffen. Auch wenn Kerscher der Ansicht ist, der von der Senatsmehrheit überstimmte Winfried Hassemer habe die alleinige Deutungshoheit über diesen Fall.
In seinem Sondervotum beschrieb er präzise den Unsinn einer Bestrafung des einvernehmlichen Beischlafs unter leiblichen Geschwistern: Die Strafdrohung sei unklar und widersprüchlich; sie sei nicht auf den Schutz von Ehe und Familie zugeschnitten, schütze nicht die sexuelle Selbstbestimmung und sie dürfe nicht auf die Gefahr von Erbschäden gestützt werden. Hassemer widerlegte das Argument, das Gesetz solle eine im Familienverband schwächere Person (im konkreten Fall die Schwester) schützen. Diesen Zweck habe die Senatsmehrheit dem Gesetz nachträglich unterlegt, der Gesetzgeber habe sich nicht darauf berufen.
Was Kerscher übersieht - oder besser unterschlägt: Sämtliche Argumente Hassemers hat der Senat in seiner Entscheidung berücksichtigt - und widerlegt. So führt Hassemer zum Beispiel breit aus, dass der Schutzzweck nicht erreicht werden könne, weil die Strafbarkeit des § 173 StGB erst mit der Volljährigkeit einsetzt. Doch blendet er dabei gerade den Regelfall des so seelenmörderischen Inzests aus, in dem es einen erheblichen Altersunterschied zwischen den Geschwistern gibt. Der Senat:
Der Einwand, der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung sei durch §§ 174 ff. StGB umfassend und ausreichend gesichert und rechtfertige § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB daher, zumal mit Blick auf dessen eingeschränkten Anwendungsbereich, nicht (…), übergeht, dass § 173 StGB spezifische, durch die Nähe in der Familie bedingte oder in der Verwandtschaft wurzelnde Abhängigkeiten und Schwierigkeiten der Einordnung und Abwehr von Übergriffen im Blick hat.
Durch das enge familiäre Verhältnis, die bestehenden Abhängigkeiten und den Altersunterschied, der den älteren Bruder nicht selten in eine Vaterersatzposition bringt, entsteht eine Zwangslage für die jüngere Schwester, aus der sie selbst dann nicht herauskommt, wenn sie volljährig wird.
So übrigens auch im entschiedenen Fall: Die Geschwister sind nicht gemeinsam aufgewachsen. Doch anders als Kerscher schon in seinem weiteren Artikel,[5]
der vorgaukelt, Tatsachen zu berichten, falsch behauptet, haben sich die Geschwister keineswegs erst “als Erwachsene” kennengelernt.
Sohn Patrick, den der Vater misshandelt hatte, lebte seit seinem dritten Lebensjahr in Kinderheimen und Pflegefamilien. Er und seine Schwester lernten sich erst als Erwachsene kennen.
Nach dem Tod der Mutter entwickelte sich eine Liebesbeziehung.
Richtig ist vielmehr, dass die Mutter im Jahr 2000 verstarb. Zu diesem Zeitpunkt war nur einer der beiden Geschwister volljährig (24 Jahre alt), nämlich der Bruder. Die Schwester hingegen war 16. Im Jahr darauf, 2001, bekam sie mit 17 Jahren bereits ihr erstes Kind von ihrem Bruder. Viel Zeit zum Kennenlernen und zum Entwickeln der Liebesbeziehung war da nicht. Vielmehr bestand eine erhebliche Abhängigkeit der leicht geistig behinderten Schwester von ihrem Bruder. Was Kerscher ebenfalls vergessen hat zu erwähnen: Der liebende Bruder wurde bei einer der ersten Verurteilungen neben § 173 StBG auch wegen vorsätzlicher Körperverletzung verurteilt: Er hatte seiner Schwester mit der Faust ins Gesicht geschlagen.
Die Angaben des Parteiverteters (der sich anders als der Journalist auf eine einseitige Darstellung beschränken darf)
Der Inzest-Paragraph habe “nicht die Familie geschützt, sondern eine Familie zerstört”, sagt der Dresdner Rechtsanwalt Endrik Wilhelm, der Patrick S. vertritt.
erscheinen da wie ein Hohn. Wenn hier etwas zerstört worden ist, dann etwas im Leben der Schwester. Und gerade das ist es, was durch den Inzestparagrafen geschützt werden soll.
Weil Kerscher davon aber nichts wissen will, holt er aus, um den kulturhistorischen Hintergrund des Inzestverbotes zu demontieren.
Karlsruhe berief sich auf eine “kulturhistorisch begründete, nach wie vor wirkkräftige gesellschaftliche Überzeugung”, Straßburg begnügte sich mit dem Hinweis auf die Inzest-Strafbarkeit in der Mehrheit der Mitgliedsstaaten des Europarats.
Dabei greift er Frankreich heraus.
Diese Rücksichtnahme eines um seine Anerkennung ringenden und völlig überlasteten internationalen Gerichts ist sogar verständlich. Es wäre für Straßburg heikel gewesen, sich etwa die Auffassung Frankreichs zu eigen zu machen, das die Inzest-Strafbarkeit abgeschafft hat - vor mehr als 200 Jahren, unter Napoleon. Es wäre auch problematisch gewesen, in die lange deutsche Gesetzgebungsgeschichte zur Strafbarkeit von “Blutschande” einzugreifen.
Was Kerscher aber ebenfalls “überlesen” hat, ob nun aus Arroganz, weil er es ohnehin besser zu wissen meint, oder aus Faulheit, weil ihm nach acht Seiten Hassemer die weiteren 15 Seiten des Senats zu viel zu lesen waren, ist, dass Frankreich den Inzest ebenfalls nicht billigt. Auch das führte das Bundesverfassungsgericht aus.
Zu berücksichtigen ist dabei, dass inzestuöses Verhalten - auch solches zwischen Geschwistern - in den Strafgesetzen von Spanien, Frankreich und der Côte dʼIvoire durchaus eine Rolle als Qualifikationsmerkmal spielen kann und in allen untersuchten Rechtsordnungen, wo nicht strafrechtlich, so doch auf andere Weise - vor allem durch Eheverbote, in Frankreich auch durch die Versagung rechtlicher Anerkennung für Kinder aus inzestuösen Verbindungen - rechtlich missbilligt wird. Auf das wiederholte Ersuchen der Vollversammlung der Vereinten Nationen in ihren Berichten der Dritten Kommission zum Schutz der Rechte des Kindes, Gesetze zum Schutz vor Inzest zu erlassen (…), wurde in Frankreich im Jahre 2004 der Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes eingebracht, das eine Legaldefinition des Inzests vorsieht und auf eine verstärkte Stigmatisierung inzestuöser Tatbegehungen abzielt (…). Qualifizierte Formen des Geschwisterinzests - also solche gegen Kinder oder Abhängige oder unter Anwendung von Gewalt ausgeführte - sind in allen untersuchten Rechtsordnungen strafbar. [Hervorhebung: Jaspis]
Alles Pillepalle für Helmut Kerscher, der das Inzestverbot als überkommene Tradition abtun will. Dabei entblödet er sich nicht, den Inzest gleichzusetzen mit Ehebruch, Kuppelei und Homosexualität. Diese Gleichsetzung ist mehr als schäbig. Bei allen drei genannten Tatbeständen handelt es sich um pure Moralvorstellungen, die sich mit der Entwicklung der hiesigen Gesellschaft geändert haben. Der Inzest hingegen hat verheerende Auswirkungen - nicht nur auf die Kinder der Geschwister, bei den rezessive Erbkrankheiten auftreten,[6] sondern auch und vor allem auf die Psyche des unterlegenen “Partners” dieser Beziehungen. Vielleicht weil ihm klar war, wie missglückt diese Gleichsetzung geraten ist, musste Kerscher nachschieben. Aus dem Satz des Bundesverfassungsgerichts
Als Instrument zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, der Gesundheit der Bevölkerung und insbesondere der Familie erfüllt die Strafnorm - auch durch ihre Ausstrahlungswirkungen über den tatbestandlich eng umgrenzten strafbewehrten Bereich hinaus - eine appellative, normstabilisierende und damit generalpräventive Funktion, die die Wertsetzungen des Gesetzgebers verdeutlicht und damit zu ihrem Erhalt beiträgt.
strickt Kerscher
Hinter der eugenischen Begründung steckt aber eine Absicht, die nicht nur in Deutschland mit seiner schrecklichen NS-Geschichte ethisch unhaltbar ist: Das erhöhte Risiko von Erbschäden rechtfertigt kein strafrechtliches Verbot.
Es ist zwar durchaus so, dass die eugenischen Gesichtspunkte für das NS-Regime im Vordergrund standen. In Bezug auf die heutige Regelung ist das aber nicht der Fall, vor allem nicht ausschließlich, auch wenn Kerscher - und natürlich der Anwalt des Beschwerdeführers das so darstellen wollen - weil sich so am einfachsten argumentieren lässt. Gegen den Seelenmord haben sie schließlich nichts vorzubringen. Doch allein die Tatsache, dass die Nazis diesen Gesichtspunkt für die Entrechtung von Menschen mit Erbkrankheiten und Behinderungen missbraucht haben, bedeutet noch nicht, dass er zu vernachlässigen wäre. Bereits die Zielsetzung war eine vollkommen andere. Das Bundesverfassungsgericht:
Die ergänzende Heranziehung dieses Gesichtspunktes zur Rechtfertigung der Strafbarkeit des Inzests ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil er historisch für die Entrechtung von Menschen mit Erbkrankheiten und Behinderungen missbraucht worden ist.
In Keschers ebenso kruden wie unbeholfenen Ausführungen und Gleichsetzungen wird im Grunde nur eines deutlich: Wenn es um ideologisch geprägte Vorstellungen geht [7]
dann wird schon mal der gesunde Menschenverstand über Bord geworfen. Denn mit seinem Schlusssatz widerlegt Kerscher selbst die Annahme, der Inzest sei etwas völlig Natürliches und daher mit Ehebruch, Kuppelei und Homosexualität gleichzusetzen.
Es geht ohnehin nur um extreme Einzelfälle. Massenhafter Inzest wäre nicht zu befürchten. Den weiß Mutter Natur zu verhindern.
Richtig. Mutter Natur ist es, die, jedenfalls in gesunden Systemen, sei es im Tierreich oder bei Menschen, eine natürliche Barriere vor dem Inzest aufgebaut hat. Ganz losgelöst von verstaubten Moralvorstellungen oder Pseudo-Freiheiten eines Helmut Kerscher oder Hans-Christian Ströbele.
Jaspis
[1] http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20080226_2bvr039207.html
[2] wie beispielsweise im Interview mit SPON vom 13.05.2009, in dem Hassemer meinte, die Rechtsprechung müsse bei “Ehrenmorden” auch den sozialen Kontext und die Sozialisation des Täters bedenken und daher auch einen Verbotsirrtum in Erwägung ziehen, was bereits angesichts der Tatsache, das “Ehrenmorde” in fast keinem Land erlaubt oder gesetzlich gerechtfertigt sind, schon eine, sagen wir, zumindest erstaunliche Forderung ist.
[3] http://www.sueddeutsche.de/panorama/inzest-urteil-in-strassburg-warum-das-inzestverbot-widersinnig-ist-1.1331288
[4] http://www.tagesschau.de/inland/inzest106.html
[5] http://www.sueddeutsche.de/panorama/entscheidung-ueber-inzest-verbot-das-letzte-tabu-1.1330379
[6] http://www.tagesschau.de/inland/inzest110.html
[7] http://www.n-tv.de/politik/Stroebele-will-Inzest-legalisieren-article6013431.html