Neukölln ist jetzt kult. Bei den Kultigen. Und bei der SZ. Nur Juden sind hier unerwünscht.
13. November 2011 von moritatensaenger
Die Kultigen und die SZ haben Neukölln entdeckt. Mit dem Resümee, Neukölln entpuppe sich als verkanntes Idyll. Mitunter, wie man einschränkt. Aber lesen wir, was die SZ schreibt [1]:
Alles ist hahalustig und von jener “neuen Unbeschwertheit” erfasst, mit der “junge Menschen mit verfilzten Haaren und Cordhosen” in ehemaligen Fleischereien sitzen und Bier trinken. Und “die günstigen Mieten ziehen Künstler an, die sich in Kneipen und auf Festivals mit Partytouristen mischen“. Herausragendes Symbol für dieses - selbstverständlich vom Kapitalismus verbrannte - angeblich aus der Asche auferstehende Neukölln ist das Festival “48 Stunden Neukölln” [2], das seit 1999 jährlich stattfindet. Dort sammeln sich die ganzen neuen Unbeschwerten und sind unbeschwert. Wenigstens 48 Stunden. Aber man hat ein großes Ziel vor Augen:
“Der Ausrichter des Festivals, das Kulturnetzwerk Neukölln, träumt den Traum vom „Luxus Neukölln” noch weiter: Jeder, der will, hat Arbeit - und kann davon leben. Auf EINEM Arbeitsmarkt.” (Zitat “48 Stunden Neukölln”)
Dazu bräuchte man nur - wer hätte das gedacht - etwas mehr Kohle. Aus dem Kapitalismus, woher sonst:
“KünstlerInnen und Off-Spaces sind notorisch unterfinanziert. Steigen Mieten und Lebenshaltungskosten, muss die Kunstkaravane einen anderen „unterbewerteten” Standort finden. Das wäre fatal für Neukölln. [...] Daher werfen wir die Fragen auf: Ist Kunst Luxus? Darf Kunst Luxus sein? Muss es sich ‘die Gesellschaft’ nicht leisten, Kultur stärker zu unterstützen?” (Zitat “48 Stunden Neukölln”)
Und man/frau bräuchte jemanden, der den Dreck wegräumt, in “Luxus-Neukölln” [3]:
“Im Jahr 2009 entflammte eine Diskussion um die Müllbeseitigung im Anschluss an die Kulturtage, die daraufhin für den Zeitraum bis 2012 aus einem Sonderetat der Bezirksverwaltung übernommen wurde…” (Wikipedia)
Schöne neue Welt. Verdrängt - geistig wie räumlich - wird bei all dem dummerweise aber auch noch eine andere Realität. Die aber erfolgreich und bald wohl auch auf Dauer:
“Anlass zu beständiger Kritik bleibt der Umstand, dass die sozialen Problemmilieus nicht eingebunden sind. In den Sachberichten der Senatsverwaltung sind keine erkennbaren Erfolge von Initiativen zu ersehen, die in den Jahren 2004-2008 versucht haben, Migrantengruppen oder sozial schwache Bewohner für die Idee der Kulturtage zu begeistern. Vielmehr besteht die Gefahr, dass Gentrifizierungstendenzen sogar noch verstärkt werden, wenn eine bessere Einbindung anderer Milieus nicht gelingt.” (Wikipedia)
Gentrifizierung heißt, das neue soziale Millieu staatlich gut unterstützter “KünstlerInnen” und Unbeschwerter, die selbst für das gemeinschaftliche Hausen in Bruchbuden, die für jede Familie mit Kindern ungeeignet sind, ausreichend Miete berappen können und wollen, verdrängt die sozial Schwachen. Und sie verdrängt die problematischen Migrantengruppen mit ihrer gefährdeten und gefährlichen Jugend, die von Straßentheater eine etwas andere Vorstellung haben, als unsere “Künstler”.
Nichts davon lesen Sie in der naiven Photostrecke der SZ. Und auch ein anderes Thema wird dort so nonchalant ausgeklammert, wie unter den “unbeschwerten” Neu-Neuköllnern:
Juden haben in Neukölln nichts mehr zu suchen [4] …
“‘Du Jude!’ Zwei Worte, die Angst machen. Wenn sie so gesprochen werden wie gestern Mittag auf der Sonnenallee, Neukölln. Zwei arabische Jugendliche laufen auf dem Bürgersteig an mir vorbei, drehen sich um, und einer ruft mit aggressivem Ton: ‘Du Jude!’ [...] Ich bin kein Jude, aber ich trage auf dem Kopf eine Kippa - die religiöse Kopfbedeckung der Juden. Ein Selbstversuch, der nicht ohne ist. [...] Ich bekomme einen Schreck, beruhige mich aber schnell wieder, weil die beiden weitergehen. Erst nach fünf Minuten traue ich mich, meinen Weg durch die Straße fortzusetzen. In einem türkischen Gemüseladen kaufe ich Bananen; der Junge an der Kasse erwidert mein Lächeln, seine Kopftuch tragende Mutter wirft mir einen finsteren Blick zu.
Schawarmageruch atmend, bekomme ich Hunger. An einem Falafelladen bleibe ich stehen, schaue durch das Fenster auf den Fleischspieß. Drinnen ein bärtiger junger Mann, der sich mit einem langen Messer an dem Spieß zu schaffen macht. Er schaut mich böse an. Ich kriege Angst - und gehe schnell weiter. Wenig freundlich auch die Blicke aus den nächsten Falafelläden. Weil sie alle voll sind, traue ich mich nicht rein. Durchatmen dann vor Rudis Reste Rampe. Ich entscheide mich, lieber zu McDonald’s am Hermannplatz zurückzugehen, weil es dort belebt ist. Müssen Neuköllner Juden immer Burger essen?” (taz, “Mit der Kippa durch Berlin”)
… denn …
“Sechs Jahrzehnte nach dem Holocaust scheint es für Juden in Deutschland wieder No-go-Areas zu geben: einmal mehr avancieren Juden zu “Sündenböcken”, wie es Juliane Wetzel sieht. Und Übergriffe muslimischer Migrantenkinder auf Juden in den vergangenen Jahren auch in Deutschland scheinen dieser Sichtweise Recht zu gebe” (taz, “Wenn die Kippa wem nicht passt - Eine Studie der EU zeigt, dass Juden in Europa zunehmend von jungen Arabern bedroht werden. Das Papier wurde weggeschlossen. Das Problem bleibt”)
Bei der Süddeutschen wird das ausgeblendet (wobei man auch im Hause SZ wohl besser keine Kippa trägt). Und so ist auch Neukölln für die SZ nur eine “vermeintliche No-Go-Area“. Vermeintlich oder real, hin oder her: Ob das besser wird, wenn die unbeschwerten “jungen Menschen mit verfilzten Haaren und Cordhosen” die Migranten aus dem Kiez verdrängt haben, kann bezweifelt werden. Denn sollte eines fernen Tages ein junger taz-Schreiber in Neu-Neukölln nochmal einen Selbstversuch mit Kippa unternehmen und in einen gewissen Dialog verwickelt werden - diesmal mit einem unbeschwerten Cordhosenträger -, wäre es immer noch vernünftig, dem eigenen Mut zum investigativen Journalismus Grenzen zu setzen. Wenn auch die Kippa vielleicht gerade noch geht, aber irgendwo ist eine unsichtbare Linie, die nicht überschritten werden darf. Weshalb der Dialog, der persönlichen Sicherheit des vermeintlichen oder realen Juden zuliebe, heute wie morgen maximal so aussehen dürfte:
“Ein Mann bietet mir Kaffee an, fragt freundlich, ob ich Israeli sei. ‘Nein’, sage ich. ‘Nicht alle Juden sind Israelis, und nicht alle Israelis sind Juden.’” (taz)
Nochmal Glück gehabt.
Mit tönendem Gruß
Ihr Peter Zangerl, alias Moritatensaenger
[1] http://www.sueddeutsche.de/reise/berlin-neukoelln-ein-kiez-wird-kult-1.1186754
[2] http://www.48-stunden-neukoelln.de/archive.html
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/48_Stunden_Neuk%C3%B6lln#Kritik
[4] http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2007/03/02/a0203
Update 13.11./10:05: “Juden sind hier unerwünscht”
1 Reaktion zu “Neukölln ist jetzt kult. Bei den Kultigen. Und bei der SZ. Nur Juden sind hier unerwünscht.”
[...] Unbeschwerten und sind unbeschwert. Wenigstens 48 Stunden. Aber man hat ein großes Ziel vor Augen: Mehr… suedwatch Gefällt mir:LikeSei der Erste, dem dieser post gefällt. Dieser Eintrag wurde [...]