Verstörend
5. August 2011 von Jaspis
308 Suchergebnisse erhalten Sie derzeit, wenn Sie den Suchbegriff “Knigge” auf sueddeutsche.de eingeben. 308 Ergebnisse, von durchaus nützlichen Tipps zum Verhalten in fremden Ländern oder im Business bis hin zur Anleitung, wie “man” sich in der digitalen Welt zu verhalten hat.[1]
Nichts bleibt dem Bauchgefühl überlassen, nichts dem gesunden Menschenverstand und erst recht nichts dem Zufall. Alles will regelmentiert sein, sogar die Art und die Form, in der man der oder dem (vormals) Liebsten Adieu sagt.
Heute meinte Michèle Roten, den SZ-Magazin-Lesern darüber hinaus auch noch Vorschriften machen zu müssen, wie sie ihre Fotos aufzunehmen haben. Welchen Geschmack sie haben sollen. In “Was soll dieser Retrokitsch?”[2]
lässt sie sich darüber aus, wie unmöglich doch der aktuelle Trend sei, Fotos trotz - oder gerade durch - digitale Technik aussehen zu lassen, als wären sie altersvergilbt und nicht neu, sondern schon sehr alt. Was sie von bewusst schwarzweiß aufgenommenen Aufnahmen hält oder von Sepia-Ausführungen, ist mir nicht bekannt, aber letztlich ist das nichts anderes als eine Geschmacksfrage. Über die sich bekanntlich nicht streiten lässt.
Nicht für Michèle Roten. Sie meint mit beinahe durch die Zeilen sichtbarem erhobenen Zeigefinger:
Aber wenn das erwachsene Kind irgendwann in der Zukunft Bilder seiner Großeltern, als sie dreißig waren, und seiner Eltern, als sie dreißig waren, vergleicht und die Fotografie gleich anmutet, dann werden wir uns ziemlich blöd vorkommen.
Man bekommt fast den Eindruck, als musste sie diesen Spruch, den sie wegen ihrer nicht gerade unauffälligen Tätowierungen an Schultern und Oberarmen[3]
sicher nicht selten erlittenen und in Bezug auf Tätowierungen auch sehr viel zutreffenderen Spruch endlich auch einmal an andere loswerden.
Bei so vielen “wichtigen” Regeln, wie “man” sich denn nun korrekt zu verhalten, korrekt zu kleiden, korrekt Schluss zu machen oder korrekt zu fotografieren hat, erscheint es umso erstaunlicher, dass die Regeln, die wirklich von Relevanz sind, so gänzlich unter den Tisch fallen: Gesetzliche Regeln. Sie sind das A und O des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Doch gerade um diese schert man sich bei der Süddeutschen wenig, jedenfalls dann, wenn es schick zu sein scheint.
Wissen Sie noch, Stuttgart 21, im vergangenen Juni? Als die Gewaltbereitschaft eines nicht unbedeutenden Teils der Protestierer die Körperverletzung mehrerer Polizisten und Sachschäden in siebenstelliger Höhe verursacht hat? Gewalttätige, ebenso wie andere Protestierer sahen sich im Recht:[4]
Auch eine Dame mit grauen Haaren, die am Dienstag auf der Baustelle ausharrt und lieber anonym bleiben möchte, kann die Aufregung nicht verstehen. An ihrer grünen Windjacke trägt sie einen Anti-Stuttgart-21-Aufkleber: “Was ist schon das Umwerfen eines Bauzauns verglichen mit dem illegalen Bau eines Bahnhofs?”, fragt sie. [Hervorhebung: Jaspis]
Die Argumentation der Protestierer war, dass die Baugenehmigung entfallen sei, weil die Bahn mehr Grundwasser entnehmen wolle als ursprünglich geplant. Logik der Protestierer: Wenn sie das behaupten, dann ist das auch so und wenn sich die Bahn nicht nach ihrem “Urteilsspruch” richtet, dann dürfen sie (die Protestierer) auch Gewalt anwenden.
Diese “Logik”, auch aus alten RAF-Tagen nicht ganz fremd, hatte immerhin Roman Deininger und Heribert Prantl zu zahmem Nachfragen veranlasst [5]
SZ: Wäre es nicht klüger gewesen, Sie hätten den Baustopp beantragt - und dazu gesagt, dass Sie nichts zahlen wollen.
Hermann: Das hätte unsere Absichten vielleicht besser zum Ausdruck, aber sonst auch nichts gebracht. Wir wollten nicht, dass die Bahn weiterbaut, weil sie damit den mühsam erarbeiteten sozialen Frieden in Stuttgart gefährdet. Und so ist es ja jetzt gekommen.
SZ: Ist die Schuldzuweisung an die Bahn nicht eine Relativierung der Gewalt der Demonstranten am Montagabend? Die Bahn hat doch Baurecht.
Hermann: Was hat denn die Bahn für ein Baurecht? Wir wollen doch mal festhalten, dass es entscheidende Veränderungen am Projekt gibt: Die Bahn will zum Beispiel der Baugrube mehr als doppelt so viel Grundwasser entnehmen wie vorgesehen. Wir haben ein Gutachten, das sagt: Das macht die Baugenehmigung hinfällig. Die Bahn will Tunnel mit einer anderen als der genehmigten Technik bauen. Da ist rechtlich noch lange nicht alles in trockenen Tüchern. Mit der Teilnahme an der Schlichtung hatte die Bahn eingesehen, dass man nicht mit dem Kopf durch die Wand kann. Es war doch klar, dass ein Risiko damit verbunden ist, wenn sie diese Position des Dialogs jetzt aufbricht. Damit relativiere ich keine Gewalt, die lehne ich ab.
SZ: Das, was die Bahn auf der Baustelle tut, darf sie tun. Ob die Änderung beim Grundwasser die Baugenehmigung tangiert, wird das Eisenbahnbundesamt entscheiden. Sollten Sie das nicht den Menschen auf der Straße vermitteln? Hätten Sie nicht mehr tun können, um die aufgeheizte Stimmung zu beruhigen?
“Wäre es nicht klüger”
“Sollten Sie nicht”
“Hätten Sie nicht”
Bei solchen watteweichen Wischiwaschi-Fragen wundert auch die ausweichende “Antwort” Hermanns nicht weiter:
Hermann: Wenn jemand viel dazu beigetragen hat, dass der Diskurs über Stuttgart 21 an Fakten und Zahlen orientiert ist, dann sind es die Grünen, und ich in besonderer Weise. Wir Grüne haben immer mit verkehrlichen, ökonomischen und ökologischen Gründen argumentiert. Die Bahn tut das nicht.
Ein klares Wort, wenigstens halb so klar wie in den Benimm-Artikeln, dazu, dass es mit Demokratie kein bisschen mehr zu tun hat, das Recht einfach in die eigene Hand zu nehmen, sich zum “Richter” und Vollstrecker in Personalunion aufzuspielen, blieb seitens der Süddeutschen aus. Da gab es wohl doch zu große Sympathien.[6]
Und so verwundert es auch nicht weiter, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim vom Dienstag nicht wirklich Erwähnung gefunden hat. Der SWR berichtete [7]
Der BUND kennt, im Gegensatz zu Winfried Hermann, wenigstens die Regeln des Rechtsstaates und hat einen Eilantrag bei der zuständigen Stelle gestellt, der jedoch abgewiesen wurde.[8] Auch das kommt vor. In die eine wie in die andere Richtung.
sueddeutsche.de war das keinen Artikel wert. Die Suche nach dieser Entscheidung auf sueddeutsche.de mit der Suchfunktion ist vergeblich. Nur wenn man von der Meldung weiß und sie googelt, dann stößt auf eine Kurznotiz im Newsticker. [9]
Mehr als das, was man ohnehin schon weiß, wenn man weiß, wonach man googeln muss, erfährt man dort aber nicht. Die Meldung wurde so gut versteckt, dass SZ-Leser sie eher zufällig gefunden hätten.
“Verstörend” findet Michèle Roten, wenn andere Menschen einen anderen Geschmack haben als sie.
“Verstörend” finde ich eher die Haltung der SZ zu dem, was “man” darf - oder nicht dürfen darf.
Jaspis
[1] http://www.sueddeutsche.de/digital/benehmen-in-der-digitalen-welt-schluss-machen-per-sms-ist-erlaubt-1.1110542
[2] http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/36066
[3] http://mikiwiki.org/wiki/Michèle_Roten/Galerie
[4] http://www.sueddeutsche.de/politik/streit-um-proteste-gegen-stuttgart-parkschuetzer-weisen-gewaltvorwuerfe-zurueck-1.1110847
[5] http://www.sueddeutsche.de/politik/stuttgart-bw-innenminister-winfried-hermann-ich-musste-durchsetzen-dass-nicht-getrickst-wird-1.1111884-3
[6] http://www.suedwatch.de/blog/?p=6173
[7] http://www.swr.de/nachrichten/bw/-/id=1622/nid=1622/did=8408246/1uo2xdj/index.html
[8] http://vghmannheim.de/servlet/PB/menu/1270377/index.html?ROOT=1153033
[9] http://newsticker.sueddeutsche.de/list/id/1187900