Böses Volk, gutes Volk.
27. Mai 2011 von moritatensaenger
Manchmal kommt man aus dem Staunen nicht mehr raus. Da schrieb und titelte sich Thomas Kirchner von der SZ [1]…
…gestern tatsächlich einen tiefen Bückling vor der “direktdemokratischen” schweizer Demokratie und dem schweizer Volk von der Seele, während der Moritatensaenger noch ganz gefangen war von dem, wie Kirchner noch vor einem halben Jahr über beide schrieb. Damals ging es um eine Verschärfung des Ausländerrechts, welche in einer Volksabstimmung von 52,9 Prozent der Schweizern (bei einer Stimmbeteiligung von 53,05 Prozent) [2] angenommen wurde. Was Thomas Kirchner zu folgender Erkenntnis über schweizer Volk und Direktdemokratie trieb [3]:
Kollege Jaspis hat Kirchners damaliges populistisches Kopfschütteln über die rückständigen schweizer “Saubermänner” treffend aufs Korn genommen und den Realitäten gegenüber gestellt [4]…
“Dabei ist die Abschiebung von schwerkriminellen Ausländern per se sicher kein Verstoß gegen das Völkerrecht, das sollte auch einem Thomas Kirchner bekannt sein. Das wird vielmehr von nahezu allen Staaten so praktiziert. Woran man sich bei der aktuellen Initiative der SVP stoßen kann, ist der Automatismus, mit dem die Abschiebung stattfinden soll. Und vielleicht der Straftaten-Katalog, für den sie greift. Beides erwähnt Kirchner aber mit keiner Silbe.
Ob tatsächlich ein Verstoß gegen Völkerrecht vorliegt, wird im Zweifelsfall der Menschenrechtsgerichtshof zu klären haben. “Ins Gesicht” springt die Völkerrechtswidrigkeit jedoch nicht, auch wenn Thomas Kirchner das - in Ermangelung irgendwelcher Argumente - so behauptet und als Kompensation fehlenden Sachvortrags dafür mehrfach wiederholt. Wäre die Initiative der SVP evident völkerrechtswidrig, dann hätte eine Abstimmung darüber - auch in der Schweiz - überhaupt nicht stattfinden können.”
Und auch heute ist wieder eine kleine Gegenüberstellung von Kirchners Behauptungen mit der davon abweichenden Realität fällig. Es sei ihm ja sein Urteil darüber gegönnt, wann ein Volk gut ist und wann schlecht, nur sollte er mit dem Bild, das er entwirft, bei der Wahrheit bleiben. Kein bedeutender Entscheid in der Schweiz der letzten Jahre nämlich war weniger “direktdemo- kratisch”, als der um den Atomausstieg. Von der sicher diskussionswürdigen (für uns, die Schweizer haben das schon diskutiert) Volksinitiative “Gegen den Bau von Minaretten” [5], über die Volksinitiative “Für die Ausschaffung krimineller Ausländer (Ausschaffungsinitiative)” [6] [7] bis zur Volksinitiative “Für den Schutz vor Waffengewalt” [8], war es tatsächlich das Volk, das auf dem Weg der direkten Demokratie seinen Willen bekundet hat. Den Atomausstieg allerdings, dem Leser von Kirchner als direktdemokratische Seite der schweizer Demokratie verkauft, beschloss der schweizer Bundesrat. Und dieser Beschluß ist weder selbst ein Vorgang direkter Demokratie, noch ist der Bundesrat überhaupt direkt vom Volk gewählt. Dessen Be- und Zusammensetzung wird von der Vereinigten Bundesversammlung bestimmt, bestehend aus Nationalrat und Ständerat. Und erst letztere beide Institutionen werden wieder vom Volk gewählt. Im Abstand von vier Jahren. Der jetzt avisierte Atomausstieg - als Folge auch von Fukushima I - konnte also in keinster Weise vom Volk bestimmt werden.
Wie Kirchner angesichts dieser Fakten von einer “Verneigung vor dem Volk” sprechen kann, ist rätselhaft. Es sei denn, dem schweizer Bundesrat (oder Thomas Kirchner) ist die hellseherische Fähigkeit zuzubilligen, zu wissen, was das - ungefragte - schweizer Volk über den Atomausstieg denkt. Was die Bürger dazu sagen - und wie das zu bewerten ist - werden wir aber von Thomas Kirchner spätestens dann erfahren, wenn die Schweizer angesichts des vom Bundesrat in Verneigung vor dem Volk gerade veröffentlichten Szenario “Neue Energiepolitik”…
“Wie er [der Bundesrat; Anm. Moritatensaenger] den Atomausstieg bewerkstelligen und die Stromversorgung trotzdem sicherstellen will, ist dagegen noch völlig offen. Insbesondere hat die Landesregierung noch nicht entschieden, wie stark sie die Energienachfrage beeinflussen will. Gedenkt sie tatsächlich, den Strompreis mit einer Lenkungsabgabe fast zu verdreifachen und den Benzinpreis auf vier Franken pro Liter anzuheben? So sieht es das Szenario ‘Neue Energiepolitik’ vor, das der Bundesrat am Mittwoch publiziert hat.” (Aus einem Artikel im schweizer Tagesanzeiger, der die Bedeutung des Entscheides des Bundesrates gänzlich anders gewichtet als Thomas Kirchner, untermauert von interessanten Informationen, die in der Süddeutschen wie selbstverständlich verschwiegen werden [9])
…per direkter Demokratie und Volksinitiative wieder eine eigene, abweichende Entscheidung treffen. Spätestens dann wird es bei Thomas Kirchner und der Süddeutschen erneut kopfschüttelnd heißen…
“Die Schweizer haben es wieder getan.”
Mit tönendem Gruß
Ihr Moritatensaenger
[4] http://www.suedwatch.de/blog/?p=4418
[5] http://www.swissvotes.ch/votes/view/563/list
[6] http://www.admin.ch/ch/d/pore/va/20101128/index.html
[8] http://www.admin.ch/ch/d/pore/vi/vis361.html sowie zum Hintergrund der Volksabstimmung
http://www.parlament.ch/d/dokumentation/dossiers/waffengewalt/Seiten/default.aspx