Volkes Wille
30. November 2010 von Jaspis
Es ist noch gar nicht so lange her, da skandierte Andreas Zielcke [1], die Entscheidung für Stuttgart 21 sei gar nicht demokratisch getroffen worden, denn es habe ja keine Volksbefragung stattgefunden. Eine Volksbefragung, die für einen derartigen Fall auch gar nicht vorgesehen ist, wohlgemerkt.
Den Gegnern des Bahnprojekts Stuttgart 21 wird vorgeworfen, sie hätten ausreichend Gelegenheit zum Mitreden gehabt. Doch von wegen. Ein Blick in die Archive zeigt: Diese Unterstellung ist schlicht falsch. Ein längst überfälliger Rückblick. (…) Trotzdem hält kein Befürworter des Projekts die Entscheidung für illegitim. Sie wurde von demokratischen Instanzen gefällt, sagen sie, die Projektgegner hatten über die Jahre ausgiebig Zeit, ihre Einwände geltend zu machen, also ist die Entscheidung zu Recht unwiderruflich.
Und auch Heribert Prantl meinte, unsere “Apfelbaumdemokratie” müsse ihre “Defizite” am besten mit einer Volksabstimmung beheben. [2]
Mit anderen Worten: Fällt die Politik, eine solche, die durch Wahlen auch noch mehrfach bestätigt wurde, über viele Jahre (und Legislaturperioden) hinweg Entscheidungen, dann wären diese Entscheidungen nur dann “demokratisch”, wenn sie auch durch eine Volksabstimmung getroffen und notfalls auch nach Jahren durch eine solche wieder beseitigt werden. Im Grunde sollte man, dieser Eindruck drängt sich bei der Lektüre der beiden Herren auf, am besten so lange abstimmen, bis das gewünschte Ergebnis erreicht ist.
Jedenfalls scheint im Haus der SZ wahre Demokratie nur mit der direkten Demokratie, mit Volksbefragungen erreichbar zu sein - wenn auch anscheinend nur dann, wenn die Ergebnisse solcher Abstimmungen einer bestimmten, vorgegebenen Meinungsrichtung folgen. Denn fallen solche Entscheidungen anders aus, dann sind sie (ganz anders als in Stuttgart, versteht sich) nur das Ergebnis populistischer Stimmungsmache.
So wie in der Schweiz zum Beispiel.
Das findet jedenfalls Thomas Kirchner, der selbsternannte Hüter rechtschaffener Denkweisen: [3]
Die Schweizer haben es wieder getan. Mit ihrem Ja zur “Ausschaffungsinitiative” senden sie - wie beim Minarettverbot vor genau einem Jahr - ein Signal an die Welt: Was ihr denkt, ist uns egal! Und: Stört uns bloß nicht beim Saubermachen zu Hause.
Ohne sich mit Details aufzuhalten, was genau denn an der Initiative völkerrechtswidrig ist und warum, stellt er wie bereits beim Minarettverbot im vergangenen Jahr lapidar fest, dass ein Verstoß gegen das Völkerrecht vorliege.
Und so glauben sich die Schweizer mit ihrem neuen, knallharten Ausländer-Abschiebungsrecht leichten Herzens über Abkommen mit der EU und internationale Konventionen hinwegsetzen zu können.
Ach, die EU. Steht sowieso nicht hoch im Kurs gerade. Und das Völkerrecht? Ignorieren wir einfach, weil es uns nicht in den Kram passt.
Das Signal der Schweizer ruft nach einer Antwort. Die Europäische Union ist auch eine Gemeinschaft des Rechts. Sie sollte nicht hinnehmen, dass ein Land, dem sie eng verbunden ist, sich mutwillig außerhalb dieser Gemeinschaft stellt.
Nicht zuletzt bricht die Schweiz eines der sieben bilateralen Abkommen mit der EU. Theoretisch bringt sie damit auch die anderen sechs zu Fall.
Dabei ist die Abschiebung von schwerkriminellen Ausländern per se sicher kein Verstoß gegen das Völkerrecht, das sollte auch einem Thomas Kirchner bekannt sein. Das wird vielmehr von nahezu allen Staaten so praktiziert. Woran man sich bei der aktuellen Initiative der SVP stoßen kann, ist der Automatismus, mit dem die Abschiebung stattfinden soll. Und vielleicht der Straftaten-Katalog, für den sie greift. Beides erwähnt Kirchner aber mit keiner Silbe.
Ob tatsächlich ein Verstoß gegen Völkerrecht vorliegt, wird im Zweifelsfall der Menschenrechtsgerichtshof zu klären haben. “Ins Gesicht” springt die Völkerrechtswidrigkeit jedoch nicht, auch wenn Thomas Kirchner das - in Ermangelung irgendwelcher Argumente - so behauptet und als Kompensation fehlenden Sachvortrags dafür mehrfach wiederholt. Wäre die Initiative der SVP evident völkerrechtswidrig, dann hätte eine Abstimmung darüber - auch in der Schweiz - überhaupt nicht stattfinden können.
Allein die Meinung - auch eine durchaus vertretbare - dass das Abstimmungsergebnis der Ergebnis populär- bis populistischer Meinungs- und Stimmungsmache ist, reicht noch nicht aus, um sie auch völkerrechtswidrig zu machen. Es muss klar sein, dass gerade darin die Krux der Volksabstimmung liegt. Und genau das ist der Grund, aus dem die repräsentative Demokratie Volksabstimmungen im Grundsatz nicht vorsieht.
Bemerkenswert ist dabei die Vorgehensweise des Thomas Kirchner: Statt sachlich zu argumentieren, polemisiert er mit unbelegten Behauptungen, jetzt[3] genauso wie schon voriges Jahr beim Minarettverbot. [4] Und wenn es nicht anders geht, dann greift er auch schon mal in die verbale Mottenkiste, um seine Meinungsgegner zu diskreditieren. Da werden schon mal Vergleiche mit “Rattenfängern” wiederbelebt [5] oder wie hier mit “Stört uns bloß nicht beim Saubermachen zu Hause” die politischen Säuberungen totalitärer Systeme.
Doch das ist nichts anderes als billiger Populismus. Populismus, der um kein Deut besser ist als jeder andere Populismus, auch wenn Kirchner zu meinen scheint, sein Populismus sei “gleicher” als der der anderen.
Wollte die Süddeutsche wirklich glaubhaft mehr Demokratie, z.B. auch über Volksbefragungen, erreichen, dann wäre sie gehalten, zu allererst zu sachlichen Argumenten zu greifen. Andere Meinungen aber in der Art eines Thomas Kirchner zu knüppeln, erinnert eher an die dunkleren Kapitel deutscher Geschichte. Mit Demokratieverständnis hat das jedenfalls nichts mehr zu tun.
Jaspis
[1] http://www.sueddeutsche.de/politik/umstrittenes-bahnprojekt-stuttgart-und-der-unheilbare-mangel-1.1013415
[2] http://www.sueddeutsche.de/politik/stuttgart-und-der-staat-die-apfelbaum-demokratie-1.1012993
[3] http://www.sueddeutsche.de/politik/schweiz-schaerferes-auslaenderrecht-was-ihr-denkt-ist-uns-egal-1.1029536
[4] http://www.suedwatch.de/blog/?p=2110
[5] http://www.suedwatch.de/blog/?p=3243