Die Axt im Haus
20. September 2010 von Jaspis
Die Axt im Haus erspart den Zimmermann. So heißt es in Schillers “Wilhelm Tell”. Auf eine Zeitung bezogen könnte man sagen: Wer sich zum Beispiel einen Juristen hält, kann rechtliche Ausführungen selber machen und benötigt keine externen Rechtsexperten. Das erhöht im Regelfall die Qualität des Blattes, das sich somit auf eigene Experten stützen kann. Gibt ein solcher Experte dann eine Meinung ab, dann ist diese eine von mehreren möglichen Schlussfolgerungen, die aus dem von dem Experten festgestellten Sachverhalt gebildet werden kann.
Das scheint man bei der SZ missverstanden zu haben. Hier scheint man der Ansicht zu sein, dass es schon genügt, sich einen (sicher nicht ganz preisgünstigen) promovierten Juristen zu halten, der den Anschein erweckt, sich mit konkreten Fällen zu befassen, während es tatsächlich allein darum geht, die Mär vom ungerechten Staat zu verkünden. Denn die Leserschaft verlangt offenbar nach letzterem, nicht nach fundierten Informationen.
Nur so lässt sich erklären, was Dr. jur. Heribert Prantl zu dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 15. September 2010 fabriziert hat.[1] Denn das, was er in
fabuliert, hat mit den Tatsachen leider so gar nichts zu tun, dass jede Meinung, die auf diesem Unsinn beruht, zwar der gerne über die Ungerechtigkeit in unserem Staat jammernden Leserschaft der Süddeutschen entsprechen mag, aber sonst nicht mehr ist als eine Seifenblase.
Ein Mann muss Unterhalt zahlen für eine Mutter, die ihm nie eine Mutter sein konnte. Mit dieser Entscheidung fügt die Justiz dem Sohn eine weitere Ungerechtigkeit zu.
Prantl will das Urteil des Bundesgerichtshof also als “ungerecht” darstellen. Und warum?
Das Leben ist ungerecht. Die einen Kinder haben wunderbare Eltern. Die anderen haben eine Mutter, die sie quält und einen Vater, der sie hasst. Wenn Eltern sich um ihre Kinder gesorgt haben, ist es recht und billig, dass sich die Kinder später um die alten Eltern sorgen und, soweit sie das leisten können, für deren Pflegekosten aufkommen. Aber was ist mit Eltern, die sich um ihre Kinder wenig oder gar nicht gekümmert haben?
Müssen Kinder für Eltern aufkommen, die ihnen keine Eltern waren?
Prantl reibt sich daran, dass der Beklagte in dem entschiedenen Fall zur Kasse gebeten wird und das, obwohl im seine Mutter eine schlechte Mutter war.
Der Bundesgerichtshof hat soeben den Sohn einer psychisch kranken Frau verurteilt, die hohen Heim- und Pflegekosten für seine Mutter zu bezahlen. Sie hatte ihn, wohl auch ihrer Krankheit wegen, in den ersten zehn Lebensjahren mehr malträtiert als umsorgt. Seit 33 Jahren hatte er keinen Kontakt mehr zu ihr. Gleichwohl: Er muss nun zahlen - für eine Mutter, die ihm nie eine Mutter sein konnte. Das Leben ist halt ungerecht; und die Justiz hat diese Ungerechtigkeit perpetuiert.
Hätte man sich die Entscheidung genauer angesehen - und hätte man vor allem das nötige juristische Grundwissen - dann hätte man hier unschwer erkennen können, dass das Urteil des Bundesgerichtshofes alles andere als ungerecht ist. Mit dem nötigen juristischen Grundwissen und auch dem erforderlichen juristischen Verständnis hätte man nämlich gesehen:
Der Beklagte wurde nicht in erster Linie wegen der Zahlung der Heimkosten in Anspruch genommen, sondern vielmehr auf Zahlung von Unterhalt aus übergegangenem Recht. Was heißt das nun?
Ausgangspunkt ist
§ 1601 BGB:
Verwandte in gerader Linie sind verpflichtet, einander Unterhalt zu gewähren.
Das ist der klassische Fall, dass Eltern ihren Kindern Unterhalt gewähren müssen, aber auch, falls die Eltern, zum Beispiel wegen Leistungsunfähigkeit ausfallen, die Großeltern. Und auch in die andere Richtung besteht Verwandtschaft in gerader Linie: Auch Kinder haben ihren Eltern Unterhalt zu gewähren, wenn diese bedürftig sind. Meistens sind sie das nicht, weil sie eigenes Einkommen haben. Werden sie dagegen zum Pflegefall, dann reichen die eigenen Einkünfte nicht mehr aus, um die hohen Kosten des Pflegeheims zu bezahlen. Ist das eigene Vermögen verbraucht, dann bleibt nichts anderes übrig als Sozialhilfe zu beantragen. Die Gemeinschaft der Steuerzahler kommt für sie auf. Das ist auch gut so, das macht den Sozialstaat aus.
Der Staat tritt aber nur dann ein, wenn niemand anders leisten kann oder muss. Das bedeutet, dass derjenige, der Sozialhilfe haben will, nicht nur erst sein eigenes Einkommen und auch sein eigenes Vermögen einsetzen muss, sondern auch sämtliche möglichen Geldquellen, auf die er einen Rechtsanspruch hat. Und das ist eben auch der Unterhaltsanspruch gegen die eigenen Kinder.
Bei diesem Unterhaltsanspruch wird zuerst geprüft, ob die Kinder überhaupt leistungsfähig sind. Anders als bei der Unterhaltspflicht gegenüber minderjährigen Kinder müssen sich Unterhaltspflichtige gegenüber ihren Eltern aber viel weniger einschränken: Der Selbstbehalt ist höher, Schulden werden in höherem Maße berücksichtigt und auch familienübliche Sparmodelle insbesondere für die eigene Altersvorsorge müssen nicht aufgegeben werden. Das hat die Rechtsprechung erst in den letzten Jahren klargestellt. Besteht dagegen Leistungsfähigkeit, dann werden die Kinder auch herangezogen.
In dem entschiedenen Fall hat sich ergeben, dass der Beklagte seiner Mutter monatlich 700 € Unterhalt zu zahlen hatte. Dieser Unterhaltsanspruch der Mutter ist gemäß § 94 Absatz 1 Satz 1 SGB XII auf den Träger der Sozialhilfe übergegangen, der insoweit in Vorleistung getreten ist. Soweit Unterhaltsansprüche bestanden haben, sind diese per Gesetz auf den Sozialhilfeträger übergegangen, der sie nun geltend gemacht hat.
Damit war der Beklagte aber nicht einverstanden. Er wandte ein, seine Mutter sei ihm nie eine richtige Mutter gewesen:
Die Mutter, die sich seit April 2005 in einem Pflegeheim befindet, litt schon während der Kindheit des Beklagten an einer Psychose mit schizophrener Symptomatik und damit einhergehend an Antriebsschwäche und Wahnideen. Sie hat den Beklagten nur bis zur Trennung und Scheidung von ihrem damaligen Ehemann im Jahr 1973 - mit Unterbrechungen wegen zum Teil längerer stationärer Krankenhausaufenthalte - versorgt. Seit spätestens 1977 besteht so gut wie kein Kontakt mehr zwischen dem Beklagten und seiner Mutter.
Der Beklagte wendet zum einen Verwirkung wegen verspäteter Geltendmachung des Unterhaltsanspruchs durch den Sozialhilfeträger und u. a. wegen Fehlverhaltens seiner Mutter ein. Da sie ihn als Kind nie gut behandelt habe, würde es zum anderen eine unbillige Härte bedeuten, wenn er gegenüber dem Sozialhilfeträger kraft Rechtsübergangs für den Unterhalt der Mutter aufkommen müsste. [2]
Abgesehen von der Verwirkung, die hier nicht eingetreten ist, berief sich der Beklagte damit auf zwei Vorschriften. Die eine ist
§ 1611 Absatz 1 BGB
Ist der Unterhaltsberechtigte durch sein sittliches Verschulden bedürftig geworden, hat er seine eigene Unterhaltspflicht gegenüber dem Unterhaltspflichtigen gröblich vernachlässigt oder sich vorsätzlich einer schweren Verfehlung gegen den Unterhaltspflichtigen oder einen nahen Angehörigen des Unterhaltspflichtigen schuldig gemacht, so braucht der Verpflichtete nur einen Beitrag zum Unterhalt in der Höhe zu leisten, die der Billigkeit entspricht. Die Verpflichtung fällt ganz weg, wenn die Inanspruchnahme des Verpflichteten grob unbillig wäre.
die andere
§ 94 Absatz 3 Ziffer 2 SGB XII
Ansprüche nach Absatz 1 und 2 gehen nicht über, soweit (…) der Übergang des Anspruchs eine unbillige Härte bedeuten würde.
Bereits § 1611 Absatz 1 BGB stellt darauf ab, ob der Unterhaltsberechtigte “durch sein sittliches Verschulden bedürftig geworden” ist. Das ist hier nicht der Fall: Die Mutter ist und war psychisch krank. Dafür kann der Beklagte nichts, seine Mutter aber auch nicht.
Weiter hat der Senat entschieden, dass eine psychische Erkrankung, die dazu geführt hat, dass der pflegebedürftige Elternteil der früheren Unterhaltsverpflichtung seinem Kind gegenüber nicht gerecht werden konnte, nicht als ein schuldhaftes Fehlverhalten im Sinne des § 1611 BGB mit der Konsequenz eines Anspruchsverlustes betrachtet werden kann.
Die Situation ist nicht viel anders als bei Familien mit einem behinderten Kind. Auch hier kann keiner etwas dafür und dennoch muss nicht der Staat für den Unterhalt dieser Kinder aufkommen - solange die Eltern leistungsfähig sind. Das Netz des Sozialstaates greift dann, wenn sich der Einzelne selbst nicht mehr helfen kann. Der staatlichen Solidargemeinschaft geht die familiäre aber voraus.
Wegen der vom Gesetz geforderten familiären Solidarität rechtfertigen die als schicksalsbedingt zu qualifizierende Krankheit der Mutter und deren Auswirkungen auf den Beklagten es nicht, die Unterhaltslast dem Staat aufzubürden. Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn der Lebenssachverhalt auch soziale bzw. öffentliche Belange beinhaltet. Das ist u. a. der Fall, wenn ein erkennbarer Bezug zu einem Handeln des Staates vorliegt. Eine solche Konstellation lag der Senatsentscheidung vom 21. April 2004 (XII ZR 251/01 - FamRZ 2004, 1097) zugrunde, in der die psychische Erkrankung des unterhaltsberechtigten Elternteils und die damit einhergehende Unfähigkeit, sich um sein Kind zu kümmern, auf seinem Einsatz im zweiten Weltkrieg beruhte. Soziale Belange, die einen Übergang des Unterhaltsanspruchs auf die Behörde ausschließen, können sich auch aus dem sozialhilferechtlichen Gebot ergeben, auf die Interessen und Beziehungen in der Familie Rücksicht zu nehmen. Der Ausschluss des Anspruchsübergangs auf den Sozialhilfeträger bleibt damit auf Ausnahmefälle beschränkt.
Ein Blick in die Pressemitteilung des Bundesgerichtshofes und in die fraglichen Vorschriften hätte Heribert Prantl unschwer erkennen lassen, dass seine populistische Frage
Soll es künftig ein Erziehungsnotensystem geben, das darüber entscheidet, ob die Kinder für die Eltern zahlen müssen?
zwar Balsam ist für seine unbedarften Leser - aber mit dem entschiedenen Fall rein gar nichts zu tun hat.
Diese “Axt” im Haus der Süddeutschen Zeitung ist für Zimmermannswerke ungefähr so geeignet wie ein Rasierpinsel. Einen Holzscheit kann man mit ihm nicht spalten, nur die Ideologie vom ungerechten Staat pinseln, das kann man mit ihm.
Jaspis
[1] http://www.sueddeutsche.de/politik/bgh-urteil-zu-pflegekosten-zum-zahlen-verdammt-1.1001149
[2] http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&nr=53325&linked=pm&Blank=1