Prof. Dr. Karl E. Grözinger: “Süddeutsche Post zum Fest der Liebe!”. Ein Leserbrief.
17. Dezember 2009 von Gast
“Es ist eine bewährte Methode, die antijüdische und antiisraelische Drecksarbeit von einem Juden machen zu lassen, damit man selbst anscheinend unangreifbar bleibt. Dies ist auch in der deutschen Presse leider ein immer wieder beschrittener Weg, nun auch von der »Süddeutschen Zeitung« vom 12./13. Dezember 2009. Wenn der jüdische Autor, Tony Judt, außerdem noch als renommierter amerikanischer Historiker vorgestellt wird, braucht man anscheinend nichts mehr zu befürchten. Wenn dieser Autor in seinem Artikel »Ethnische Geiselhaft« (S. 16) die Politik der israelischen Regierungen kritisiert, so ist man dies von der »Süddeutschen« ja auch schon hinreichend gewohnt, nun aber wird der Vorgang mit unhistorischen, einseitigen und gar altbewährten antisemitischen Redefiguren eskaliert. Es ist eine Schande, dass eine renommierte deutsche Zeitung sich dazu hergibt, oder wohl besser, dass sie so etwas inszeniert.
Wie gesagt, dass man Israel kritisiert, ist man gewohnt und dies ist auch erlaubt. Aber dass man es unter dem Anschein der historischen Objektivität tut und dass man den Juden weltweit ihr eigenes jahrtausendealtes Selbstbewußtsein bestreitet und sie gar schuldig für die Angriffe der Antisemiten sein lässt, hat eine Qualität, die nicht mehr nur antiisraelisch, sondern antisemitisch ist - es gibt auch jüdischen Antisemitismus, wie jüngst ein deutsches Gericht feststellte.
Natürlich gibt es Juden, die, wie Judt polemisiert, eine »streng rassebezogene und ethno-deterministische Auffassung« hegen. Aber dies dann für das ganze Judentum zu verallgemeinern, ist eine der typischen Verfahrensweisen des Antisemitismus. Wenn ein Jude ein Dieb ist, sind die Juden schlechthin Diebe. Judt verlangt von den Juden zu glauben, dass das Judentum eine »herbeigedichtete Gemeinschaft unter vielen« ist, die sich ihre »Selbstdefinitionen in Reaktion auf unsere Verfolger entwickelt« hat. Später sagt er noch: »Wenn wir uns darauf einigen können, dass es das ›Jüdische‹ nicht gibt …«. Spricht so ein Historiker? Eine historische und kulturelle Sicht wird so etwas niemals sagen können, wohl aber eine rassisch-ethnische, wie sonst könnte Judts Hinweis auf die »Mischehen, Bekehrungen, Assimilationen« in der jüdischen Geschichte ein Argument gegen einen legitimen Zusammenhang der biblischen mit den israelischen Juden sein? Judt denkt in den Kategorien, die er den anderen Juden vorwirft, eine klassische antisemitische Verkehrung der Argumentation. Wir reden hier über Judentum und nicht über einige verirrte Juden. Das sollte auch dem Historiker Judt klar sein!
Den Juden wirft Judt vor: »Der Ethno-Mythos einer direkten jüdischen Abstammungslinie war für die Legitimität des jüdischen Staates und somit für die institutionalisierte Vorzugsbehandlung der Juden gegenüber den Nicht-Juden essentiell.«
Hört dieser Historiker, was er sagt? Wo war die Vorzugsbehandlung der Juden während der 2.000 Jahre europäisch-christlicher Geschichte - es sei denn man versteht die »Vorzugsbehandlung« im Sinne der Nazis. Und es war, was der Historiker Judt doch wissen sollte, gerade die Weigerung der europäischen Staaten, die Juden zu dem werden zu lassen, was sie am liebsten selbst wollten, gleichberechtigte Bürger dieser Staaten zu sein. Seit dem 19. Jahrhundert hat man im europäischen Judentum, gegen die eigene religiöse Tradition, das Judentum nur noch als Religion, nicht mehr als Volk definiert. Die Antwort Europas war Antisemitismus und Vernichtung. Und gerade hier lag einer der drängensten Faktoren des politischen Zionismus, auch wenn es heute chic ist, den Zionismus einfach als spätkolonialistisch-nationalistische Bewegung zu verunglimpfen. Die jüdische Religion hatte die Rückkehr der Juden ins Gelobte Land dem Messias und Gott überlassen wollen, darauf wollten aber die Antisemiten und die christlichen Staaten Europas nicht warten. Diese haben letztlich doch die »Schuld« am politischen Zionismus!
Von all dem ist bei Judt keine Rede, und die Redakteure der »Süddeutschen Zeitung« sind wohl auch froh, davon nichts zu hören, sonst hätten sie diesen agressiven antiisraelisch-antijüdischen Artikel nicht ohne Kommentar in ihr Blatt gesetzt - und das ausgerechnet zum jüdischen Chanukka-Fest und vor den Toren des »christlichen Festes der Liebe«. Dies ist infam und eine Schande für die »Süddeutsche Zeitung«, wogegen man mit aller Macht protestieren muss.
Es ist schließlich typisch antisemitische Verkehrung, wenn man den Juden die Ursache für ihre Verfolgung selbst in die Schuhe schiebt. Judt tut das, indem er dem heute größten Antisemiten dieser Welt, dem iranischen Staatspräsidenten Ahmadinedschad, letztlich eine Rechtfertigung für dessen Leugnung des Holocaust schenkt, weil diese ihre Gründe, recht besehen, bei den Juden selbst habe: »Der iranische Präsident Ahmadinedschad macht sich einen Spaß daraus, den Holocaust zu leugnen und stellt so die israelische Propaganda auf den Kopf. Wenn Israels beste Verteidigung Auschwitz ist, dann braucht man nur noch zu sagen, es habe den Holocaust nie gegeben. Weltweit zeigen sich die Juden natürlich entsetzt, doch aus einer israelischen Perspektive wirkt es geradezu bestätigend und ist daher vielleicht nicht ganz unwillkommen.« Dies ist der reine Zynismus, gegen den wir, nicht ohne Abscheu, nur vehement protestieren können.
Prof. Dr. Karl E. Grözinger
Dr. Elvira Grözinger
und weitere Unterschriften”
(Großzitat des Leserbriefes mit freundlicher Genehmigung des Autors)
“Ethnische Geiselhaft” von Tony Judt; Artikel in der SZ vom Samstag/Sonntag, 12./13. Dezember 2009: