Der “Jude” ist zurückgekehrt in das Zentrum pauschaler Schuldzuweisungen. (Teil 1)
29. Juli 2009 von moritatensaenger
Judenhass und dessen verbale Lebensäußerung, das Verwenden des Begriffs “Jude” in abwertendem Zusammenhang, war in der Bundesrepublik viele Jahre lang geächtet. Wer sich gegen dieses ungeschriebene Gesetz verging, entlarvte sich als Antisemit. Und Antisemiten, das haben wir zudem von den AntiFaschisten gelernt, die daraus geschickt ein Instrument politischen (und realen) Kampfes entwickelten, waren gleichzusetzen mit Nazis, und Nazis waren Rechte, und Rechte waren alle, die rechts von der Mitte der SPD ihre politische Heimat gefunden hatten. Die Welt war in Ordnung.
(Original von indymedia.org; Hervorhebungen durch Moritatensaenger, vollständige URL dem Autor bekannt)
Kein vernünftiger Mensch hätte es damals gewagt, sich die verlogenen „Protokolle der Weisen von Zion” ins Bücherregal zu stellen, niemand - außer eben den Antisemiten - hätte auch nur im Traum daran gedacht, einen Satz zu formulieren, in dem „die Juden” in Verbindung gebracht worden wären, mit irgendwelchen dubiosen Vorgängen. Es war, als habe eine komplette Gesellschaft - oder zumindest ein überwältigender Teil davon - aus der Vergangenheit gelernt.
Aber die Zeiten scheinen sich geändert zu haben. Statt der Protokolle der Weisen von Zion stehen die nur anscheinshalber wahreren Ergüsse von John Mearsheimer und Stephen Walt, zusammengefasst in dem Werk „The Israel Lobby and U.S. Foreign Policy” [10], im Schrank, und auf dem Schreibtisch darf eine Zeitung liegen, die ihr Titelblatt zwar nicht mit „Die Juden sind unser Unglück” unterschreibt, die auf der Seite 9 ihrer dicken Wochenendausgabe aber immerhin einen Artikel abdruckt - und selbstverständlich auch in der Online-Ausgabe veröffentlicht -, der in seiner Headline behauptet:
[1]
Es gab allerdings auch eine Zeit, da fand sich auf der Titelseite der Süddeutschen [2] ein Kommentar von Wilhelm Emanuel Süskind (dem Vater des Romanciers Patrick Süskind) zur „Judenfrage”, in dem u.a. stand:
Wir möchten glauben, dass beim einfachen Mann in Deutschland ein echter Antisemitismus tatsächlich genau so wenig besteht wie vor vierzig, vor zwanzig oder (unter uns Bayern gesagt!) vor zehn Jahren. Er schweigt, und da auch die Männer der Öffentlichkeit ihr höfliches oder verlegenes Schweigen der Gutangezogenen bewahren, behauptet mit ihrem Getuschel und Gezischerei jene ewige Mitläuferkaste das Feld, jene Mittelseelen und Mittelintelligenzen, deren politisches Ingenium immer nur so weit reicht, nach einem Sündenbock fürs eigene liebe Unglück zu suchen, und die jedes Eisenbahnabteil mit ihrem „wohlmeinenden” Geseufz erfüllen: …Ach, die Juden!”
Wie bereits gesagt, die Zeiten haben sich geändert: Heute sitzt die Mitläuferkaste, sitzen die Mittelseelen und Mittelintelligenzen nicht mehr nur im Eisenbahnabteil und seufzen, sondern sie füllen weltweit die Redaktionsstuben und die Korrespondentenbüros. Auch die der Süddeutschen. Nur eines ist gleich geblieben: Der Sündenbock ist der Jude.
Dabei bin ich überzeugt davon, dass Thorsten Schmitz, um dessen Artikel [1] es sich hier dreht, ein Linker ist (geht bei der SZ nicht anders) und aufrechter Antifaschist dazu, und dass, sollte er in die Verlegenheit kommen, einmal ein KZ zu besuchen, Tränen tief empfundener Rührung und heillosen Entsetzens über seine Wangen rollten. Was bei ihm, liest man seine Artikel, über die wir auf suedwatch.de bereits berichteten [3] [4] [5], eine Haltung vermuten lässt, die typisch ist für weite Teile der Linken und die der US-General of the Army, Philip “Little Phil” Sheridan, im Januar 1869 in Fort Cobb gegenüber dem Penateka Comanche Chief “Silver Knive” Tosawi so auf den - idiotischen - Punkt brachte:
The only good Indians I ever saw were dead” [6]
Übersetzt in die Gegenwart und auf die Haltung der Linken zu den Juden heißt das:
“Die einzigen guten Juden sind die, die von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden.”
Wer nämlich -das zur Erklärung - als verfolgter Jude die Chuzpe hatte zu überleben und gar die Kühnheit besaß, nach Israel auszuwandern (oder, genauso schlimm: wer als Jude irgendwo auf der Welt - am Ende sogar noch in den USA - zu neuem Vermögen kam), ja wer als Jude gar die Hände nicht mehr hochgestreckt über dem Kopf trug, sondern sich entschloss, sie auf Brusthöhe und mit einer Waffe versehen zu halten [7], der hat, auch das lehrten und lehren uns die AntiFaschisten, den Bonus des “guten Juden” verloren und ist die Krokodilstränen nicht mehr wert, die im KZ der guten Tradition zuliebe immer noch vergossen werden.
Jetzt also darf der Jude (wohlgemerkt: nicht der Israeli und nicht der Zionist) wieder der Dinge beschuldigt werden, die - wie Süskind schrieb - durch eigenes Unglück und Unvermögen irgendjemandes entstanden. Den Jud als Sündenbock darzustellen ist wieder gesellschaftstauglich.
Dass dazu früher wie heute die Wahrheit - zurückhaltend formuliert - modifiziert oder - wo des Abänderns untauglich - ganz unterschlagen werden muss, das hat noch nie gestört und tut’s auch heute nicht, weshalb auch Schmitz’ Anklage gegen die Juden von - sagen wir - Fehlern und Ungereimtheiten nur so strotzt. Das beginnt schon bei der Tatsache, dass nämlich die Palästinenser nicht
- wie behauptet - den “Juden” weichen müssen:
Oberflächlich betrachtet bezieht sich das Geschreibsel Schmitz’ auf den Konflikt um Grundstücke in Jerusalems Viertel Sheikh Jarrah (Schmitz: „Scheich Dscharach”), die von mehreren palästinensischen Familien geräumt werden müssen, weil die Grundeigentümer dort in neue Wohnbebauung investieren wollen. Einer der Eigentümer, Irving Moskowitz, dem das Gelände des ehemaligen Shepherd-Hotels gehört, ist bei Schmitz selbstredend kein Investor, sondern ein “jüdischer US-Millionär”, die Palästinenser sind selbstverständlich “Großfamilien” und gebaut werden sollen an Stelle der Häuser der Familien “Luxuswohnungen”. Was das “Jüdisch” des Investors mit seinen Rechten als Eigentümer und der Umsetzung eines Beschlusses des israelischen Obersten Gerichts zu tun hat - die betroffenen palästinensischen Familien haben dort letztinstanzlich ihre Klagen gegen das Vorhaben verloren - das erschließt sich nicht ganz. Bedeutet das nun, dass wenn ein Bauunternehmer in Deutschland, katholischer Millionär, eine Räumungsklage gegen eine Familie, vielköpfig und protestantisch, juristisch durchsetzt, dass die SZ dann titelt:
“Protestanten sollen Katholiken weichen!”?
Auch das andere Unternehmen, das in Sheikh Jarrah - in größerem Rahmen als Moskowitz - bauen möchte, Nahalat Shimon (Schmitz: “Nachalat Schimon”) ist zunächst einmal Grundstückseigentümer und sicher auch Bauherr, und erst in zweiter Linie ein Unternehmen einer Siedlervereinigung; sprich, die Tatsache das in Nahalt Shimon Siedler vereinigt sind, hat nichts, aber auch garnichts mit deren Rechtsanspruch vor dem Gesetz zu tun.
Jedenfalls, obwohl die Situation in Sheikh Jarrah relativ unübersichtlich ist, scheint - den Gerichtsurteilen und den wenigen auffindbaren, nicht emotionalisierten Fakten folgend - klar zu sein, dass die palästinensischen Familien an ihrem Schicksal nicht unschuldig sind. Sie siedelten sich 1956, zur Zeit der jordanischen Besetzung Jerusalems, im Rahmen einer Maßnahme der jordanischen Regierung an diesem Ort an, und bereits damals war - auch der jordanischen Verwaltung - bekannt, dass sich der Boden und die Bebauung im Eigentum jüdischer Siedler befanden, die dort seit dem 19.Jahrhundert um das vermutete Grab Shimon Hatzadiks, eines Hohepriesters aus der Zeit des Zweiten Tempels (um die Zeitwende), siedelten. Thorsten Schmitz erwähnt in seinem Text zwar den Namen Shimon Hatzadiks (Schmitz: “Schimon Ha Tzadick”) mit nicht zu überlesender, dummer Ironie -
Nachalt Schimon International wolle auf dem frei werdenden eine neue jüdische Siedlung mit rund 200 Wohnungen errichten, für die es auch schon einen Namen gebe: Schimon Ha Tzadik (Schimon, der Gerechte).” (Hervorhebung Moritatensaenger)
- hält den Namen aber offensichtlich lediglich für einen - unpassenden - PR-Gag der Grundeigentümer. Jedenfalls verließen die in der damaligen Siedlung lebenden Juden im Laufe der Pogrome durch die Araber in den 1920ern und 1930er Jahren - und zuletzt während der Kämpfe um die israelische Unabhängigkeit, 1948/49 - ihre Siedlung und flohen.
Auf dieses Gelände der Geflüchteten aber beziehen sich die Eigentums- ansprüche der Nahalat Shimon und es scheint, als wäre es ihnen in den Auseinandersetzungen mit den palästinensischen Familien vor Gericht gelungen, den Eigentumsnachweis zu führen, jedenfalls wurden die Palästinenser schon vor Jahren dazu verurteilt, an die Siedler-Organisation Miete für die Gebäude zu entrichten, wofür ihnen im Gegenzug von der Justiz zugesichert wurde, dass damit ihr Bleiberecht in ihren Häusern in Sheikh Jarrah gesichert sei. Diese Mietstreitigkeiten waren aber beileibe nicht die ersten, denn auch schon vor der Nahalat Shimon-Ära, die erst ab 2003 als Eigentümer in Erscheinung traten, wurde den Palästinensern gegenüber von den früheren Besitzern, dem Sephardic Community Committee und dem Knesset Yisrael Committee, geltend gemacht, dass sie für Gebäude, die sie bewohnten, und den Grund, den sie benutzten, Miete zu zahlen hätten. Das war 1972 und blieb weitgehend erfolglos. Und hier kommen wir wieder zu dem „Sündenbock fürs eigene liebe Unglück”, von dem Süskind schrieb: die Palästinenser ignorierten über Jahrzehnte jeden Einigungsversuch und jedes geltende Recht und weigerten sich standhaft, irgendeine Form von Miete zu bezahlen - womit sie den ihnen vom Gericht zuerkannten sicheren Status irgendwann verwirkten -. Nur das führte letztendlich dazu, dass sie nun per Gerichtsbeschluss zur Räumung gezwungen werden. Sündenbock für dieses Dilemma aber soll nach dem Willen der Protagonisten, der selbstlosen Helfer und des “Aufklärers” Thorsten Schmitz nur wieder der sein, der’s immer schon war: Der Jud.
Nun, wie gesagt, das ganze Tohuwabohu um Sheikh Jarrah ist schwer zu durchschauen; oberflächliche, tendeziöse Presseberichte wie der von Thorsten Schmitz verschleiern mehr als sie aufklären und schlussendlich sind es in einem Rechtsstaat wie Israel die Gerichte, die das letzte Wort dazu sprechen müssen. Bürgerorganisationen wie Ir Amim (gefördert übrigens von der EU) können und sollen auf Missstände aufmerksam machen, aber sie sind nicht selten in ihren Sichtweisen einseitig (was sie auch dürfen, sofern sie nicht Objektivität vortäuschen) und vor allem ersetzen ihre Statements keine behördlichen Untersuchungen und keine gerichtlichen Urteile.
Kehren wir aber zurück zu dem Artikel von Thorsten Schmitz und betrachten uns die Behauptung, die Juden verdrängten die Palästinenser aus einer anderen Perspektive. Wiewohl Jerusalem immer wesentlich mehr Juden (und Christen) als Einwohner gehabt hat, als Araber; z.B.:
1866 Juden (und Christen) 17.000 Araber 5.500 Total 22.500
1922 Juden (und Christen) 33.900 Araber 28.600 Total 62.500
1945 Juden (und Christen) 99.300 Araber 65.100 Total 164.400
1972 Juden (und Christen) 230.000 Araber 83.500 Total 313.800
1985 Juden (und Christen) 327.700 Araber 130.000 Total 457.000
- beginnt sich die demographische Situation heute zu Lasten der Juden (und der wenigen Christen) zu verändern. Während ihre Zahl von 1985 bis 2007, also innerhalb von 22 Jahren, um weniger als 50 Prozent stieg, nahm die Zahl der Araber um über 100 Prozent zu .
2007 Juden (und Christen) 487.100 Araber 260.500 Total 747.600
(Zahlen 1922 bis 2007: [8]; Zahlen 1866: [9])
Und das, obwohl von diversen Organisationen und Medien im selben Zeitraum immer propagiert wurde, die Juden - und hier vor allem die Siedler - versuchten die Araber aus Jerusalem zu verdrängen. Davon kann aber - woran auch neue Wohnungen in Sheikh Jarrah nichts ändern - schon angesichts der demographischen Entwicklung keine Rede sein.
Aber auch sonst wird mit dem Beispiel Jerusalem gern Propaganda gegen die Juden und die Israelis getrieben, etwa indem immer von einem „arabischen Ostteil Jerusalems” gesprochen wird:
„Die israelische Bürgerorganisation Ir Amim (Stadt der Völker) wirft der Jerusalemer Stadtverwaltung vor, Palästinenser aus dem arabischen Ostteil Jerusalems „systematisch zu vertreiben”.” (Zitat Thorsten Schmitz [1])
Tatsache ist aber: es gibt keinen historisch begründbaren und auch keinen völkerrechtlich relevanten “arabischen Ostteil Jerusalems”. Um das zu belegen wird der Moritatensaenger in dem in Kürze folgenden Teil 2 dieses Artikels einen kleinen Ausflug in die Entwicklung Israels im vorletzten und letzten Jahrhundert unternehmen.
Bis da hin einen tönenden Gruß
Ihr Moritatensaenger
[1] Süddeutsche Zeitung Nr.169, Samstag/Sonntag, 25./26.Juli 2009, Seite 9 oder
http://www.sueddeutsche.de/politik/366/481834/text/
[2] Süddeutsche Zeitung Nr.90, Dienstag, 2.August 1949, Seite 1
[3] „Feinheiten”
http://www.suedwatch.de/blog/?p=383
[4] „Es ist nicht so, dass Thorsten Schmitz immer nur Schund geschrieben hätte.”
http://www.suedwatch.de/blog/?p=213
[5] „Offenkundige Friedensunwilligkeit”
http://www.suedwatch.de/blog/?p=1273
[6] Der Überlieferung nach sagte „Silver Knive” Tosawi damals zur Begrüßung des US-Generals, „Me Tosawi; me good Injun.”, worauf eben der in der damals typischen Attitüde entgegnete „The only good Indians I ever saw were dead” . Sheridan leugnete später, diesen Ausspruch getan zu haben.
Quelle: “Racist Symbols & Reparations - Philosophical Reflections on Vestiges of the American Civil War”, George Schedler, Rowman & Littlefield Publishers, S. 60
[7] „Das sind nicht mehr unsere Juden!”
http://www.suedwatch.de/blog/?p=681
[8] Israeli Central Bureau of Statistics Information
[9] Brockhaus Conversations-Lexikon, Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände, 11. Auflage, 1866, Band 8, S.470
3 Reaktionen zu “Der “Jude” ist zurückgekehrt in das Zentrum pauschaler Schuldzuweisungen. (Teil 1)”
Nachdem auch der israelische Staat inzwischen wieder zwischen jüdischen und arabischen Staatsbürgern differenziert und die arabischen Staatsbürger zu Menschen zweiter Klasse macht - dritter Klasse sind die Palästinenser - ist es wohl schwierig eine Bezeichung für die “richtigen Israelis” zu finden. Die Bezeichnung Juden dürfte da am nächsten kommen.
Tränen vor Rührung und des Glückes über diesen Artikel rollen über meine Wangen. Es gibt jemanden im All da draußen, der das genauso beobachtet hat, wie ich. Und das hier auf der Erde… in Deutschland. Ich bin ehrlich glücklich.
Lieber David Stern,
„Tränen der Rührung“ sind gut, Tränen des Zorns sind besser. Denn der Gerührte wird untergebuttert, während der Zornige gefürchtet und – wenn auch nur deswegen – respektiert wird. Das lehren uns der fanatische Teil der Muslime auf dieser Welt nicht anders als viele Palästinenser, die es beide mittlerweile so weit gebracht haben, dass die universale Geltung der Menschenrechte ebenso wie jeder ethische Kodex zu ihren Gunsten einem modischen Kulturrelativismus untergeordnet werden. Und während es früher hieß, wer schreit hat Unrecht, gilt heute, wer schreit, dem wird nachgegeben.
Deshalb ist suedwatch.de und sind meine Texte vielleicht nicht leise und vielleicht auch nicht höflich, aber geschwiegen – das ist meine Meinung – wurde gerade zum Umgang mit Israel schon viel zu lange.
Bei Ihnen aber möchte ich mich für den freundlichen Kommentar bedanken, der mich zusätzlich motiviert. Ich freue mich, Sie als Leser bei suedwatch.de zu wissen.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr Moritatensaenger