Aus dem SZ-Sprachlabor: „Gefickt“ und „Angepisst“. SZ-Sprachworker an vorderster Kulturfront
12. Januar 2014 von Wolpertinger
Früh übt sich, was ein anspruchsvoller SZ-Leser werden will. Und deshalb hilft die SZ-Redaktion kräftig mit, die einwandfreie Beherrschung der deutschen Gossensprache und deren Weiterentwicklung im Sinne größerer Verrohung zu fördern: Hier sind die vielen perfekten Denglisch-Sprecher in diesem Qualitätsblatt besonders verdienstvoll, denn sie sind gänzlich unbelastet von der Kenntnis des Englischen, ganz besonders in seiner seit Nachkriegszeiten beliebten amerikanischen Variante, der Sprache des Siegers. Allem sonstigen sprungbereiten Anti-Amerikanismus der SZ und verläßlich heruntergebeteter allgemeiner Kulturkritik an den USA zum Trotz äffen die SZ-Wortdengler auf sprachlicher Ebene überaus brav und eifrig das ordinäre Vulgär-Idiom des ansonsten verachteten häßlichen Amis treudeutsch nach und übersteigern es noch teutonisch mit vermeintlich 1:1wortgetreuen Rückübersetzungen (aus dem Amerikanischen ins Deutsche), bar jeglichen Gefühls für unterschiedliche Sprachregister, dem Grad der Kolloquialität in den beiden Sprachen und insgesamt totaler Ignoranz der Kunst des Übersetzens.
So auch in diesem Fall, in dem der Jetzt-Mitarbeiter Jan Stremmel für das SZ-Jugendmagazin ein Interview führte, in dem es um „freight train hopping“ (Abenteuer-Reise als blinder Passagier auf einem Güterzug in Kanada) geht (1):
Zugegeben: Als der Wolpertinger, offensichtlich nicht auf der „Höhe der Zeit“, diese Überschrift in der SZ online las, traf ihn beinahe der Schlag.
Der Reporter hat im Interview gerade der Beschreibung des „train hoppers“ Dave Tew gelauscht, wie es ist, wenn ein Güterzug, auf den man soeben aufgesprungen ist, in die falsche Richtung fährt (in die Richtung nämlich, in die man gerade nicht will) und der Zug auch nicht anhält. SZ-Jan fragt Dave:
Auf einem Zug gefangen zu sein, der nicht anhält?
Klar. Stell dir vor, der fährt zwei Tage durch die Wüste! Das kann in den USA durchaus passieren. Wenn du dann nicht genug Wasser und warme Kleidung für die Nacht hast, bist du gefickt.
„Bist du gefickt“? Hä? In diesem Blatt für „anspruchsvolle“, kultivierte Leser (bzw. solche, die es noch werden wollen oder sollen)? Eine Google-Recherche des Wolpertingers und seine Nachfragen bei Teenagern ergab, daß in manchen Kreisen tatsächlich das bisher absolut nicht „salonfähige“ deutsche F-Wort unter Jugendlichen mehr und mehr Verbreitung findet. Und dem trägt Jan Stremmel in seinem ins Deutsche übersetzten Interview natürlich bahnbrechend Rechnung: Anbiederung an seine Leser mittels propagierter „Jugendsprache“. So echt-erfrischend-jugendlichgeil-sprachkonventionenverachtend, dieser „kreativ“ nachempfundene Jargon: siehe die in den Titel seines Artikels übernommene angebliche Aussage von Dave Tew: “Ohne warme Kleidung „bist du gefickt“.
Natürlich hat Dave Tew nichts gesagt, was der deutschen Übersetzung „bist du gefickt“ entsprechen würde. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit benutzte Dave die Redewendung: „You are fucked“/“fucked up“, was heutzutage schon fast zur schludrigen Umgangssprache im Amerikanischen gehört. Damit hat Dave Tew jedenfalls nicht dieselbe schockierende Wirkung erzielt/erzielen wollen wie Jan Stremmel mit seiner einfältigen Blaupause des englischen Wortlauts im Deutschen (i.e. „fucked“= „gefickt“), sondern er hat in etwa nur gesagt: Ohne warme Kleidung bist du erledigt/ geliefert/ total „am/im Arsch“.
„Du bist am Arsch“ als ordinärste deutsche Variante immer noch nicht ordinär genug? Also noch einen Tick drauf! „Gefickt“ sagen die Sprachprogressiven bei der SZ und wiederbeleben mit ihrer wörtlichen deutschen Übersetzung einen in „fucked“/„fucked up“ längst nicht mehr so begriffenen und als total anstößig empfundenen ursprünglichen Wortsinn, - damit ein weiteres nützliches Wort aus der einstigen englisch/amerikanischen Tabuzone befreit in unsere sonst so viel feinere, distinguiertere Kultur einziehe und – wenn auch etwas verspätet - unseren kärglichen deutschen Wortschatz zum Nutzen von Proleten jeden Alters bereichere! (Vorsicht, Ironie).
In diesem Zusammenhang verweist der Wolpertinger auf den sehr informativen Wikipedia-Artikel unter FUCK (2), in dem geschildert wird, daß von 1795 – 1965 in keinem bedeutenden englischen Lexikon das Wort gedruckt enthalten war. (Eine britische Studie aus dem Jahr 2000 fand heraus, daß das britische Publikum das Wort „fuck“ als das dritt-obszönste Tabuwort überhaupt einstufte). Der Ausdruck kam erst nach 1970 mit zahlreichen amerikanischen Film-und Fernsehproduktionen in den zunehmend ungenierten mündlichen Sprachgebrauch. In Fernseh-und Radiosendungen wird es trotzdem noch ausgeblendet oder es werden Substitute dafür gefunden (z.B.“effing“ für „fucking“). Aber schön, wenn in der SZ keine derart elitären Hemmungen die ungebremsten Ausdrucksmöglichkeiten von Heranwachsenden beschneiden. Sprachpflege ist leider kein Gebiet (mehr), dem sich SZ-Journalisten verpflichtet fühlen.
Doch fahren wir fort mit einem zweiten Denglizismus, der uns bisher einfach gefehlt hat und dringend eingebürgert werden muß! In der Antwort von Dave Tew auf Jan Stremmels Frage, wer so alles „train hopping“ betreibe, gibt’s einen weiteren „falschen Freund“ in Jan Stremmels „fachkundiger“ Übersetzung, nämlich deutsch „angepißt“ für engl. „pissed/pissed off“.
Klingt so, als gäbe es nicht gerade viele von euch Train Hoppern, oder?
Ich hab jedenfalls noch nie einen getroffen. Es gibt zwar schon einige, die das machen, vor allem Obdachlose, aber da bleibt jeder unter sich. Nachdem ich das Video online gestellt hatte, waren einige von denen echt angepisst: Ich würde das verherrlichen und ahnungslose Leute animieren, ihr Leben zu riskieren. Was wiederum allen anderen schaden würde.
Bereits in einem früheren Kommentar des Wolpertingers zu einem Artikel der SZ, in dem „pissed off billionaires“ mit „angepißte Milliardäre“ übersetzt worden war, wies der Wolpertinger darauf hin, daß „angepißt“ im Deutschen der Fäkalsprache angehöre und die scheinbar wörtliche Entsprechung im Deutschen zu „pissed off“ auch deshalb unangebracht sei, weil der Ausdruck „angepißt“ registermäßig weit überzeichne - im Gegensatz zur absolut nicht mehr schockierenden, völlig abgeschliffenen Allerwelts-Verwendung von „pissed“/“pissed off“ im Amerikanischen (3). “Pissed off“ wäre in den zwei Beispielen also lediglich mit „ schwer verärgert“ o.ä. zu übersetzen.
Nun ja, vielleicht geht’s den SZ-Schreibern auch echt nur darum, an vorderster Kulturfront zu wirken und der Gossensprache niedrigsten Niveaus – noch dazu mit internationalem Flair und kosmopolitisch geadelt ! – zum Siegeszug durch die deutschen Lande zu verhelfen. Schließlich muß man dem „anspruchsvollen“ Publikum der SZ-Jung-Leser das angemessene Idiom zur Verfügung stellen, das dem Zuschnitt der von der SZ angebotenen geistigen Produkte für Jung UND Alt entspricht. Einfach VorBILDlich.
Die Schizophrenie von geiferndem Anti-Amerikanismus der SZ und der Mehrheit ihrer Kommentatoren einerseits und von freiwillig betriebener Sprachkolonisierung durch geradezu peinlich-unoriginelle und reichlich schiefe Imitate von Ami-Slang durch SZ-„Sprachworker“ andererseits – das mag verstehen, wer will.
Der Wolpertinger
(1) http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/582974/Ohne-warme-Kleidung-bist-du-gefickt
(2) http://en.wikipedia.org/wiki/Fuck
(3) http://www.suedwatch.de/blog/?p=9317